Polen: Der Aufstieg des weißen Adlers
Schlangestehen hatte sich im sozialistischen Polen zu einer regelrechten
»Wissenschaft« entwickelt, wie es Iwona Kienzler in ihrem
Buch »Życie w PRL. I strasznie i śmiesznie« über den Alltag unter der
Herrschaft der kommunistischen Arbeiterpartei beschreibt: Da Warteschlangen
an der Tagesordnung waren und man oft mehrere Stunden
anstehen musste – beim Kauf von Möbeln oder Haushaltswaren sogar
über mehrere Tage hinweg –, entstanden einige findige Systeme. Eines
davon war die sogenannte ›Warteschlangenliste‹. Sie kam zum Einsatz,
wenn die Wartezeit nicht Stunden, sondern Tage betrug. In diesem Fall
wurden alle Wartenden in eine Liste aufgenommen, damit die Leute
nicht die ganze Zeit über anwesend sein mussten. Die Liste wurde
alle paar Stunden vorgelesen und die Anwesenheit abgefragt. Wer sich
nicht anwesend meldete, wurde von der Liste gestrichen.
Der Zeitplan für die Aufnahme in die Liste wurde im Voraus
bekannt gegeben. Bei einer Wartezeit über mehrere Tage hatte man
sich drei- bis viermal am Tag zu melden. Manche nahmen sich dafür
Urlaubstage, andere baten ihre Vorgesetzten darum, sich kurzzeitig von
der Arbeit entfernen zu dürfen, oder man bezahlte andere Personen
dafür, sich stellvertretend für einen zu melden (man nannte das »einen
Schlangesteher anheuern«). Die Warteschlangenliste lag in der Obhut
eines selbsternannten Warteschlangen-Ausschusses.35
Ein anderes Beispiel aus dem Buch »80-te. Jak naprawdę żyliśmy
w ostatniej dekadzie PRL« (Die 1980er-Jahre: Wie wir im letzten Jahrzehnt
des kommunistischen Polens wirklich lebten) von Joanna Solska:
Um effektiver einkaufen zu können, wurde Missbrauch getrieben mit
den Privilegien, die schwangeren Frauen und Frauen mit Kindern zustanden: »Geschäfte waren Orte, in denen sich der Gegensatz
zwischen theoretischem und realem Sozialismus manifestierte. In der
Theorie wurden Frauen von dem System respektiert und erhielten
Privilegien, wenn sie Kinder hatten oder schwanger waren. Eines
dieser Vorrechte war die Möglichkeit, einkaufen zu können, ohne dabei
anstehen zu müssen. So marschierten Frauen mit Kindern einfach in
die Geschäfte (manche liehen sich die Kinder von Freunden aus) und
gingen direkt zur Kasse. Je knapper ein Produkt war, desto mehr Frauen
mit Kindern kamen. Und während sie alle Bestände in dem Laden aufkauften,
kam der Rest der Leute in der Schlange kaum voran.«36
Auch Tomasz Agencki, mit dem ich einen Film über Sozialismus
und Kapitalismus in Polen produziert habe (»The Rise of the White
Eagle«), berichtet von der Findigkeit der Polen, wenn es darum ging,
Tauschgeschäfte an die Stelle konventioneller Käufe treten zu lassen.
Ja, es sei von Vorteil gewesen, den Verkäufer zu kennen, der einem
einige Produkte besorgen konnte: »Tatsächlich aber war die Realität
vielschichtiger: Du musstest den Verkäufer in einem Schuhgeschäft
kennen. Der konnte dir dann ein Paar Schuhe verkaufen, das du als
Bestechung weitergibst an jemanden, der dir ein Fahrrad verkauft.
Das Fahrrad schenkst du jemandem, der eine Torte besitzt, um so die
Hochzeitstorte für die Tochter deines Elektrikers zu bezahlen. Diese
Praxis wurde in einigen Filmen dargestellt, speziell in denen von
Stanislaw Bareja. Im Polnischen gibt es für diese Absurdität sogar ein
spezielles Wort, das sich von seinem Namen ableitet: Bareismus.«
Nach Karl Marx war der Sozialismus nicht mehr als ein Übergangsstadium
zum Kommunismus. Im Kommunismus sollten alle
Menschen nach ihren Bedürfnissen leben können. Die Polen, die in der
Schlange standen, um das Nötigste zum Leben zu bekommen, hatten
dafür nur Spott übrig. Ein Witz in Polen lautete:
»Wie wird das Problem der Warteschlangen in den Geschäften
gelöst, wenn wir den vollständigen Kommunismus erreicht haben?«
»Es wird nichts mehr geben, wofür man Schlange stehen muss.«37
Das alles ist nicht sonderlich lange her, es sind Erinnerungen an
die 1980er-Jahre. Das heutige Polen hat damit nichts mehr zu tun. Seit 1989 hat sich das inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro
Einwohner verdreifacht.38 Polen verzeichnet seit 1989 ein durchschnittliches
reales Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent pro Jahr und ist in
den Jahrzehnten nach Beginn der marktwirtschaftlichen Reformen
zur sechstgrößten Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen
Gemeinschaft aufgestiegen.39 Polen hatte seit den Reformen 1989 die
am schnellsten wachsende Wirtschaft Europas und gilt als »Europe’s
Growth Champion« – so der Titel eines Buches von Marcin Piatkowski.
Dieses erstaunliche Wachstum hat einen Hauptgrund: In kaum einem
Land vergleichbarer Größe ist die wirtschaftliche Freiheit in den vergangenen
Jahrzehnten so stark gestiegen.
Die Heritage Foundation berechnet seit 1995 jedes Jahr den »Index
of Economic Freedom«. Der theoretisch höchste Wert wäre 100, aber
keines der 177 erfassten Länder erreicht diesen Wert – Spitzenreiter
waren 2022 Singapur und die Schweiz mit 84,4 bzw. 84,2 Punkten.
Der theoretisch niedrigste Wert wäre 0, den Nordkorea mit 3,0 fast
erreicht. Polen steht mit 68,7 Punkten auf Platz 39, was zunächst nicht
besonders bemerkenswert erscheint und keinen der oberen Spitzenränge
bedeutet. Allerdings ist Polen damit bereits wirtschaftlich freier
als beispielsweise Spanien, Israel, Frankreich oder Italien.40
Viel wichtiger als der absolute Rang ist jedoch die relative Veränderung
seit 1995, und hier ist Polen in der Tat Spitze: Die Punktzahl
stieg von 50,7 im Jahr 1995 auf 69,7 im Jahr 2021 – im Jahr 2022 verlor
Polen einen Punkt und kommt nun auf 68,7. Es gibt zwar einige sehr
kleine Länder wie Georgien (3,7 Millionen Einwohner) oder Bulgarien
(6,9 Millionen Einwohner), die einen noch stärkeren Zuwachs erlebten.
Doch von den Ländern, die mehr als 30 Millionen Einwohner haben,
erlebte nur Vietnam, das sich von 41,7 auf 60,6 Punkte steigerte, einen
vergleichbar großen Zuwachs an wirtschaftlicher Freiheit.41
Aber die wirtschaftliche Freiheit in Polen ist aktuell in Gefahr. Insbesondere
seit dem Jahr 2015, in dem die PiS-Partei die Macht übernahm,
wurden Sozialausgaben massiv erhöht, die Privatisierung weitgehend
gestoppt und sogar bereits privatisierte Banken und Betriebe
in Staatseigentum überführt. Kurzum, Polen ist dabei, den Weg der Marktwirtschaft, die das Land so erfolgreich gemacht hat, zu verlassen
Obgleich sich diese Entwicklung im Ranking der Heritage Foundation
bislang noch nicht angemessen spiegelt, hat Polen in den vergangenen
Jahren an wirtschaftlicher Freiheit verloren Das ändert nichts an der
Erfolgsgeschichte Polens in den 25 Jahren von 1990 bis 2015 Doch
lassen Sie uns die Geschichte von Anfang an betrachten.
Wir beginnen mit einem Rückblick in die dunkle Zeit, als Polen
zuerst einen schrecklichen Krieg und die vierte Teilung des Landes
erlebte und dann ein sozialistisches Regime.