3. Vietnam: Doi Moi – der Aufstieg des Drachen
Die Aufgabe des achtjährigen Phung Xuan Vu und seines zehnjährigen
Bruders war es, für ihre Familie, die ständig unter Hunger litt, Essen
zu besorgen. Das war – bevor die marktwirtschaftlichen Doi-Moi- Reformen in Vietnam zu wirken begannen – nur mit Essensmarken
möglich. Der wichtigste Gegenstand hierbei war ein Heft mit Coupons
für Lebensmittel. Als der Ältere trug Vus Bruder das Heft bei sich, und
er wusste, dass die Familie nichts zu essen haben würde, wenn er es
verlieren würde. Die Gutscheine im Inneren waren auf wachsartigem
gelbem Seidenpapier gedruckt. Sie bedeuteten den Unterschied
zwischen hungern und etwas zu essen haben, obwohl es nie genug war.
Die Gutscheine musste man bei Einrichtungen für die Lebensmittelausgabe
einlösen. Oft musste man viele Stunden warten, manchmal
den ganzen Tag, um ein wenig zu essen zu bekommen, und wer eine ganz sichere Chance haben wollte, kam schon in der Nacht: »Die
Kinder standen gemeinsam mit Nachbarn stundenlang in der Warteschlange.
Einige Leute trafen schon um 2 Uhr, 4 Uhr oder 5 Uhr
morgens ein, wenn es noch dunkel war. Andere stellten einen Korb
oder einen Ziegelstein ab, um ihren Platz in der Schlange zu halten,
und gingen dann wieder weg, um andere Dinge zu erledigen. Sobald
die Sonne aufgegangen war, nutzten die Schulkinder die Wartezeit, um
ihre Hausaufgaben zu erledigen. Bei Regen wurde der Boden unter
ihnen schlammig und rutschig. Und wenn es heiß war, wurden sie von
Durst und Erschöpfung fast ohnmächtig.«187
Sie standen schon an, bevor die Lebensmittel geliefert wurden – in der Hoffnung, dass irgendwann welche kommen würden. Familien
schickten ihre Kinder, andere schickten Leute vor, die stellvertretend für sie anstanden – und natürlich musste man sich abwechseln. War
man schließlich an der Reihe, wurde man oft mit harschen Beamten
konfrontiert: »Die Beamten waren nicht freundlich«, erinnert sich
Vu. »Sie waren herrisch – und sie hatten die Macht. Wir hatten das
Gefühl, dass wir um das Essen betteln mussten, das uns rechtmäßig
zustand.«188
Die Familien hatten keine Wahl, sie mussten akzeptieren, was die
Beamten in ihren Beutel warfen: »Wir hielten unsere Beutel auf, damit
die Beamten den Reis hineinschütten konnten. Sie nahmen einen
Eimer, schaufelten den Reis aus einem großen Sack auf der Karre und
legten den Beutel auf eine Waage, damit wir ja nicht mehr bekamen,
als unserer Familie zustand. Wir wussten, dass die Beamten manchmal
Steine in die Reisbeutel legten, sodass wir weniger Reis bekamen. Und
oft war der Reis alt oder schimmelig. Wir wussten auch, dass sie den
guten Reis, wenn es denn welchen gab, für sich oder ihre Freunde
behielten. Oder ihn auf dem Schwarzmarkt verkauften, um sich etwas
dazuzuverdienen. Das machte uns wütend, doch wir konnten uns nicht
wehren oder mit den Beamten streiten. Was konnten wir als Kinder
schon tun?«189
Wie viel Essen man bekam, hing vom Status der Familie ab. Staatsbedienstete
erhielten mehr, Fabrikarbeiter weniger. Wenn nicht genug
Reis da war, bekamen sie Weizen, aber viele wussten nicht, was sie
damit anfangen sollten. Doch selbst wenn sie wussten, wie man Brot
backt, war es schwierig, weil die dafür notwendigen Zutaten meist
nicht vorhanden waren. Zudem brauchte man Strom für den Ofen,
aber Elektrizität gab es nur wenige Stunden am Tag. Und den Strom
nutzte die Familie nicht, um zu backen, sondern, um eine Lampe anzumachen
oder ein altes Radio zu hören. Manchmal fiel der Strom plötzlich
aus, dann musste man eine Kerze anzünden. Manche Familien
stahlen Strom, aber das war gefährlich.190
Vus Familie war sehr stolz darauf, ein Fahrrad zu besitzen. Obwohl
es ziemlich alt war, empfanden sie es wie einen Rolls-Royce. Damals,
in den 80ern und Anfang der 90er-Jahre, fuhren fast alle Vietnamesen
Fahrrad. Heute in Hanoi sieht man nicht mehr viele Fahrräder, etwa 85 Prozent der Fahrzeuge auf den Straßen sind Motorräder und
Mopeds.
Die Amerikanerin Nancy K. Napier, die die Berichte von Vietnamesen
aus der Zeit vor und nach den Doi-Moi-Reformen zusammengetragen
hat, überschrieb das Kapitel über die Zeit davor mit dem Wort
»Hunger«. Sie unterrichtete ab 1994 an der National Economics University
in Hanoi. Sie erinnert sich, was ihre Kollegen zu ihr sagten,
wenn sie etwas zugenommen hatte: »Nancy, you are fat!« Sie belehrte
die Vietnamesen, dass man einer amerikanischen Frau nie und unter
keinen Umständen sagen solle, sie sei fett. Das verstanden sie nicht:
»Oh, aber das heißt doch, dass du wohlhabend bist. Du hast genug zu
essen, nur deshalb kannst du dick werden. Du solltest glücklich sein!«191
Als ich 2022 einen Vortrag an der gleichen Universität hielt, sah ich
gut gekleidete Studenten und Professoren, die voller Ehrgeiz waren,
etwas aus ihrem Leben zu machen. Eine andere Erinnerung von Nancy
Napier: Sie wunderte sich, warum es in Hanoi so wenig Vögel gab.
Als sie die Frage stellte, schauten die Vietnamesen sie verdutzt an,
so als ob sie nicht ganz richtig im Kopf sei. Sie klärten sie auf, dass
die Menschen, die Hunger hatten, die Vögel fingen, um sie zu verzehren
– sogar Spatzen.192 Viele Menschen waren damals unterernährt
oder litten an Vitamin-A-Mangel. »Junge Mütter hatten manchmal
nicht genug Milch für ihre Kinder. Deshalb kochten manche Reis und
fütterten ihre Babys mit ›Reismilch‹ in der Hoffnung, dass die Nährstoffe
ausreichen würden.«193
Bach Ngoc Chien erinnert sich: »Als Teenager war ich immer hungrig.
Unsere fünfköpfige Familie teilte sich drei Schüsseln Reis zum
Mittagessen und drei Schüsseln zum Abendessen. Wir Kinder teilten
uns eine Schüssel zum Frühstück. Fleisch gab es bei uns so gut wie nie,
außer bei zwei Anlässen: zum Mondneujahr und zum Todestag meines
Großvaters. 1988, in meinem letzten Jahr an der Oberschule, wog ich,
glaube ich, unter vierzig Kilo.«194
Selbst das sowjetische Weißrussland wirkte verglichen damit wie
ein Paradies. Luong Ngoc Khanh, der heute große Unternehmen
besitzt und 1983 nach Minsk geschickt wurde, um Russisch zu lernen, erinnert sich: »Damals war Russland [gemeint ist Weißrussland] wie
das Paradies. Dort hatten wir Äpfel, Milch und Fleisch. In Vietnam
waren all diese Dinge Mangelware.«195
Vietnamesen nennen diese Periode heute »Thoi Bao Cap« (Subventionsperiode)
– es war die Zeit der sozialistischen Planwirtschaft,
bevor Vietnam sukzessive durch die Doi-Moi-Reformen zu einer Markwirtschaft
wurde. Vietnam hat sich durch diese Reformen massiv verändert,
und dies ist das Thema dieses Kapitels: »Die Armut in Vietnam
ist von einem Mehrheitsproblem zu einem Minderheitsproblem
geworden.«196 Mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner von
98 USD war Vietnam 1990 noch das ärmste Land der Welt, noch hinter
Somalia (130 USD) und Sierra Leone (163 USD).197
Wie rückständig und arm Vietnam war – selbst im Vergleich mit
anderen sozialistischen Ländern –, zeigen diese Zahlen: Die Elektrizität,
die pro Einwohner produziert wurde, lag 1985 in Ungarn bei 4.656
kwh, in der DDR bei 6.839 kwh, in Polen bei 3.702 kwh und in Vietnam
bei 87 kwh. Das durchschnittliche Einkommen (in Rubel) betrug 1960
in Ungarn 669,80 Rubel, in Polen 581,80 Rubel und in Vietnam 20 Jahre
später (1980!) lediglich 50 Rubel.198
Vor Beginn der ökonomischen Reformen führte jede Missernte zu
Hunger, und Vietnam war angewiesen auf Unterstützung durch das
World Food Programme der UNO und auf finanzielle Unterstützung
der Sowjetunion und anderer Ostblockstaaten.199 Noch 1993 lebten
79,7 Prozent der Vietnamesen in Armut. Bis 2006 hatte sich die Quote
auf 50,6 Prozent reduziert. 2020 lag sie bei nur noch 5 Prozent.200
Vietnam ist heute eines der dynamischsten und aufstrebendsten
Länder der Welt, mit enormen Chancen für fleißige Menschen und
Unternehmer. Von einem Land, das vor Beginn der marktwirtschaftlichen
Reformen nicht genug Reis produzieren konnte, um die eigene
Bevölkerung zu ernähren, ist es zu einem der größten Reis-Exporteure
der Welt geworden – und zu einem bedeutenden Elektronik-Exporteur.
Wenn ich jedoch mit Menschen über Vietnam spreche, merke ich,
dass sie meist sehr wenig über dieses Land wissen. Viele sind überrascht,
wenn ich ihnen sage, dass Vietnam mehr Einwohner hat als jedes europäische Land Mit fast 100 Millionen Einwohnern leben in
Vietnam mehr Menschen als in Deutschland, in der Türkei, in Großbritannien,
in Frankreich, in Italien oder in Spanien, fast doppelt so viel
wie in Südkorea und 17-mal so viele wie in Singapur.